Die prächtige Schande

Wie würde die Gruppe RAMMSTEIN „Yesterday Once More“ von THE CARPENTERS interpretieren? „Als ich jung war / Ich hörte Radio / Wartete auf meine Lieblingslieder / Wenn sie spielten sang ich mit / Es brachte mich zum Lächeln / Das waren so glückliche Zeiten / … / Ich wundere mich / Wohin sind sie gegangen…“ Wie würde der Leadsänger von RAMMSTEIN, Till Lindemann, das Stück auf unsere Pyrobühne der Kunst bringen? On The Top Of The World? Die prächtige Schande der Träume, sie will tagsüber keiner von uns mehr wahrhaben. Oder sie überhaupt wahrnehmen…

Wir sind so vorsichtig geworden. Wir misstrauen unserer Kultur. Sie macht uns Unbehagen. Wenn Herr Lindemann sagt, er sei Rentner, und mit seinem Lottogewinn von 500.000 Mark mache er nun erstmal eine Reise nach Island, fahre dann mit seiner Tochter nach Rom und besuche dort eine Papstaudienz, um im Herbst in Wuppertal eine Herrenboutique zu eröffnen… wir wollen dem Sänger einfach nicht mehr glauben. Wer auf die Bühne der Öffentlichkeit geht, der stirbt auch auf der Bühne, mitten im Rampenlicht, verstrickt in Widersprüche, verloren gegangen im Gestrüpp unterschiedlichster Erwartungen und Vor- bzw. Nachstellungen. Es ist zum Verzweifeln.

Wie man wird, was man liest

Es war, glaube ich, die Autorin Siri Hustvedt, die einmal schrieb, dass alle Bücher, die sie jemals gelesen habe, egal, ob sie sich noch an alle einzelne Texte erinnern könne oder auch nicht, sie in ihrer Entwicklung geprägt hätten. Das sehe ich ebenso. Ich weiß sogar noch, dass es vorallem das Kinderbuch „Ferdinand“ von Munro Leaf war, was mich schon früh und nachhaltig beeinflusste. Obwohl… ich bin mir sicher, dass ich zuerst den Kurzfilm „Ferdinand“ aus dem Jahr 1938, basierend auf dem gleichnamigen Kinderbuch von 1936, in einem der damaligen drei Fernsehprogramme gesehen hatte. Lang ist´s her. Bild und Text klangen & klingen auf alle Fälle für mich nach, vergleichbar einem Glockenton, der einmal erzeugt, in alle Ewigkeit zu klingen vermag… bis ins Jetzt hinein. Immer noch schaue ich Fernsehen, immer noch haben einzelne Sätze aus dem Buch „Ferdinand“ ihre Gültigkeit für mich…

Meine Wahnheit und nichts als die Wahnheit

I don’t wanna talk / About things we’ve gone through / Though it’s hurting me / Now it’s history … Kulturelle Zwänge werden nämlich heutzutage gerne abgelegt, die Gesellschaft verliebt sich eher in ihre eigene unkultivierte Authentizität. Nun, da muß ich ja nicht mitspielen. Und so bleibe ich auch gerne bei meinem Unbehagen, sprich bei der Kultur, hängen. Wie auch an der Kunst, die ich so gerne als einen Teil meiner Kultur ansehe. Kunst ist für mich ein Instrument, auf dem ich immer nur „liebevoll-beschränkt“ spielen kann… Das Schicksal von Kunst ist es, denke ich immer, wenn sie sich auf die Bühne einer Öffentlichkeit wagt, sofort in einem Wettstreit überboten zu werden. Die Öffentlichkeit sucht den SUPERSTAR. Ein kleiner Stern, noch dazu am Rande eines unbekannten Universums, ist völlig uninteressant. Soll sein. Wollust und Grausamkeit kann ich deshalb auch ohne Scham die Aszendenten von meinem pittoresken Sternenherz nennen. Erregt so etwas wirklich die Gemüter? Würde eine Öffentlichkeit mich deswegen vorführen, düpieren, mir die Eingeweide einer antiquierten Wunschvorstellungen herausreißen? Oder  mich an den medialen Pranger einer Talkshow stellen? THE WINNER TAKES IT ALL… Mag alles sein. Nur meine Seele bekommt die Öffentlichkeit nicht. Sie sitzt dort, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Und etwas berühren heißt hier, das mir etwas bedeutet. Mit anderen Worten: ich entblöße mich in jedem Bild / dafür muß ich mir sogar die Haut abziehen (lassen, wenn ich nicht Obacht gebe und meine Deckung verliere)…

Ich bin nackter als ein Exhibitionist je nackt sein kann / und werfe so die Frage nach der nackten Wahrheit auf / und dies / ungeeignet für jeglichen Wettstreit / aber einer sinnlosen Tortur wie Kunst eben nicht abgeneigt / Verrückt / so ziehe ich meine Kreise / durchlaufe Verwandlungsprozesse / Frösche werden zu Schmetterlingen / und diese wieder zu Raupen, die auf Pilzen sitzen und Pfeife rauchen…

„Wer bist du?,“ erkundigt sich die Raupe gelangweilt und mit schläfriger Stimme. „Ich weiß es nicht genau,“ lautet meine immer gleichlautende Antwort. „Denn ich bin nicht ich; es ist reichlich verwirrend, in einem einzigen Leben so viele verschiedenen Körpergrößen zu haben.“ „Du wirst dich im Laufe der Zeit daran gewöhnen,“ sagt die Raupe und schiebt sich die Pfeife wieder zurück in den Mund, um genüßlich zu paffen und dann den Rauch auszuatmen. So verweht die Zeit um mich herum und ich mit ihr. Mir reicht das voll uns ganz… so lautet meine ganze Wahnheit…